endlich aufgeräumtDer Weg aus der zwanghaften Unordnung

Kapitel 4:



Über mich



Ich war ein Messie. Schon als Kind konnte ich nicht Ordnung halten. Ich entwickelte ganz eigene Systeme und hatte dadurch nie das Problem, Dinge nicht finden zu können. Kein Vorteil übrigens, denn dadurch stellte sich ein Teil des Leidensdrucks, den viele Messies kennen, bei mir nicht ein und hinderte mich, mein Problem zu lösen. Denn ich konnte ja immer sagen "Klar sieht's bei mir wüst aus, aber ich finde ja immer alles, was ich suche. Kein Problem also.". Ein gemeiner Trugschluss, denn ich fand zwar, was ich unmittelbar zum Leben zu brauchen meinte, aber ich vergaß natürlich, dass ich bestimmte Dinge besaß, die einfach jahrelang irgendwo verschlampt waren. Doch zurück zur Geschichte: Als ich von zuhause auszog, begann ein Teil meines Lebens, auf den ich mich schon als kleiner Junge gefreut hatte: selbständig entscheiden und mein Umfeld ganz nach meinen Wünschen gestalten zu können. Aber ich scheiterte schnell, zuerst kaum merklich: Ich packte einfach nicht alle Kartons aus nach dem Umzug in die eigene Wohnung. Dann ließ ich den Abwasch stehen. Ich hatte Besseres zu tun und könnte ihn später machen. Dann räumte ich Dinge nicht mehr an die ihnen zugewiesenen Plätze. Die Wäsche stapelte sich mitten auf dem Boden. Dadurch hatte ich Motten in der Wohnung. Zudem lagen überall auf dem Boden Gegenstände herum, die ich demnächst gebrauchen würde. Sie staubten voll und wurden von weiteren Dingen bedeckt. Als Jäger und Sammler schaffte ich zudem ständig neue Dinge an. Wegschmeißen konnte ich nichts. Ich hatte große Pläne und plante, selbst definitiv kaputte Gegenständen irgendwann einmal einzusetzen. So behielt ich jahrelang einen genau in der Mitte zerbrochenen Teller, weil ich fest davon überzeugt war, genau so einen Teller irgendwann für einen Sketch gebrauchen zu können. Natürlich habe ich diesen Sketch bis heute nicht geschrieben. Damals kam ich nicht auf die Idee, dass man einen Teller den Bedürfnissen entsprechend jederzeit präparieren könnte. Wenn der Zeitpunkt käme. Stattdessen bewahrte ich diesen Teller und noch tausend weitere, kaputte Dinge auf. Als hätte ich Angst, irgendwann einmal auf dem Trockenen zu sitzen. In der Wohnung hatte ich mir Gänge geschaffen, durch die ich in die jeweiligen Räume gelangte. Das Badezimmer wurde immer schmutziger. Die Wände fingen an zu schimmeln und der Putz blätterte ab. Ich lebte insgesamt neun Jahre in dieser Wohnung. Während ich anfänglich noch Besuch empfangen und mit unkontrollierten Aufräumaktionen das Gröbste kaschieren konnte, änderte sich das später völlig. Mein soziales Leben spielte sich komplett außerhalb meiner eigenen vier Wände ab. Es trat sogar mehrfach die absurde Situation ein, dass meine jeweiligen Partnerinnen niemals meine Wohnung zu Gesicht bekamen. Ich hielt mich einfach ständig bei ihnen auf. Dass keine dieser Partnerschaften lange hielt, hatte natürlich zu einem grossen Maß auch damit zu tun. Nachdem ich bereits acht Jahre in dieser Wohnung gelebt hatte, starb mein Vater. Ich erbte weitere Gegenstände und einen Mietvertrag. Leider war weder meine noch seine Wohnung groß genug, um alle Möbel und den restlichen Kram unterzubringen. So lebte ich über ein Jahr mit zwei Wohnungen. Natürlich fühlte ich mich in keiner der beiden Wohnungen wohl. Meine eigene war ein unbewohnbares Chaos, die meines Vaters war eben nicht meine eigene. Ich mietete dann eine Wohnung, die groß genug war und zudem dem entsprach, was ich mir immer gewünscht hatte: Altbau, Holzfußboden, viel Platz, große Wände für meine ganzen Bilder. Ich nahm mir vor, nun alles zu ändern. Ich würde von Anfang an Ordnung halten, immer sauber machen, kurz: endlich so leben, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Die Wirklichkeit sah anders aus, das Ganze begann von vorne. Die Wohnung stand ein weiteres Jahr leer, bis ich es schaffte, sie renovieren zu lassen. Die Umzüge schaffte ich irgendwie. Aber ich lebte auch in der neuen Wohnung im Chaos. Wieder packte ich Kartons nicht aus, wieder waren Bad und Küche binnen kürzester Zeit verdreckt, wieder hatte ich keinerlei soziales Leben innerhalb meiner eigenen vier Wände, wieder kannten Partnerinnen meine Wohnung nicht. Wenn es mir "gut" ging, störte mich diese Situation nicht, obwohl ich innerlich resigniert hatte. Das machte sich immer dann bemerkbar, wenn es mir schlecht ging. Dann war ich mit meinem ganzen Leben überfordert. Nach außen hin funktionierte ich gut, aber glücklich konnte ich so nicht werden. Ich hatte schließlich immer ganz genaue Vorstellungen, wie ich gerne wohnen wollte. Ich wußte genau, was ich brauchte, um mich wohl zu fühlen. Ich hatte sogar Bilder vor Augen, wie meine Wohnung auszusehen hätte. Und ich beneidete Menschen wie meinen Bruder, die sich selbst als "Wohner" bezeichneten. Ich wäre auch gerne eine Wohner gewesen. Aber es ging nicht. Ich konnte einfach nicht wohnen. Stattdessen verlegte ich meine gesammten Aktivitäten nach außen. Ich war viel unterwegs, arbeitete viel, traf mich an sechs Abenden in der Woche mit Freunden, ging auf Konzerte, machte tausend tolle Dinge. Aber das, was ich mir immer gewünscht hatte, nämlich schön zu wohnen, das tat ich nicht. Bis ich eines Tages einen Bericht im Fernsehen über einen Messie sah, bei dem noch nicht der Seuchendienst vor der Tür stand. Ein "minder schwerer" Fall also. Ich erkannte mich wieder und konnte dem Zustand zum ersten Mal einen Namen geben. Ich beschloß, mein Leben zu ändern. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie. Aber der Entschluß stand fest. Ich gab mir Zeit bis zum Ende des Jahres, die Initiative zu ergreifen. Noch vor Ablauf der Frist las ich in einem Zeitungsartikel über Selbsthilfegruppen für Messies. Ich besuchte dann über ein Jahr eine Selbsthilfegruppe der "Anonymen Messies". Aber die entscheidende Erkenntnis, der Moment der Heilung, die Erlösung und das Ende meines Daseins als Messie kam wie aus heiterem Himmel. Und zwar nicht durch die "Anonymen Messies", sondern trotz der "Anonymen Messies". Das klingt paradox, ist es aber nicht. Was war passiert? Ganz einfach: durch eine kleine Veränderung des Blickwinkels kam die Erkenntnis. Ich begriff, dass alles, was ich als Freiheit und Vorteil meiner Lebensführung begriffen hatte, dass alle Gründe, die ich mir für mein Chaos und die Unmöglichkeit seiner Beseitigung zurechtgelegt hatte - dass all dieses ein gemeiner Selbstbetrug war und zum genauen Gegenteil dessen führte, was ich eigentlich wollte: ein freier, gutgelaunter, kreativer Mensch zu sein, der sich an Dingen erfreuen und ein erfülltes Leben führen kann. In dem Moment, wo ich dieses erkannte, veränderte sich mein Leben schlagartig. Es ging buchstäblich von einer Sekunde auf die andere. Und deshalb weiß ich genau, dass jeder Messie sein Dasein ändern kann. Man braucht dazu nichts, außer dem Wunsch, so nicht weiterzuleben. Das genügt!



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